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Der erste Schrei – und das 5000mal

Heiligabend 1977: Die vorweihnachtliche Hektik steuert auf ihren Höhepunkt zu. Und während die christlichen Kirchen sich mit Messen und Gottesdiensten auf Jesu Geburtstagsfeier vorbereiten, bereitet sich neben Maria -eine weitere werdende Mutter auf die Geburt ihres Kindes vor. Ausgerechnet Heiligabend! Aber die Gebärende hat Glück: Ihre Hebamme heißt Marie Sloot und – noch mehr Glück – ist ihre Mutter.
Marie Sloot wurde am 25.2.1913 in Uelzen als erste von vier Töchtern des Sattler- und Tapeziermeisters August Witte und seiner Frau Friederike geboren. Sie schloss ihre Schulbildung mit der Mittleren Reife ab und arbeitete danach im Haushalt des Fabrikanten Wendlandt als Betreuerin der körperbehinderten Tochter Olli. Nach deren Tod ließ Marie Sloot sich 1942 in Marburq zur Hebamme ausbilden. 1947 heiratete sie Wasse Sloot, mit dem sie zwei Kinder, Geese und Hindrik, hatte. Marie Sloot ist am 20. Auqust 2005 in Uelzen gestorben.

Über ihr Leben berichtet ihr Sohn Hindrik Sloot

Sie war als Älteste der vier Töchter frühzeitig mitverantwortlich für die jüngeren Schwestern. Dadurch war sie sehr fürsorglich, entwickelte aber auch eine recht bestimmende Art. Sie war zeit ihres Lebens eine pragmatische, praktische Person, die dem Vater früh zur Hand ging und gerne mithalf. Sie war sehr bodenständig und außer während der Ausbildung in Marburg war Uelzen ihr Lebensmittelpunkt.“

Marie Sloot arbeitete als freie Hebamme; mit dem Fahrrad fuhr sie zu den Entbindungen – damals meist Hausgeburten – und zu den „Wochenbesuchen“; auf dem Gepäckträger den Hebammenkoffer und am Lenker das Steckbecken. Aus ihren Erzählungen wird deutlich, wie schwierig es Ende des Krieges war, unter Bombenbeschuss zu den Gebären – den zu kommen, und welchen Gefahren sie oft ausgesetzt war, um zu „ihren“ Frauen zu kommen. Sie nahm sich Zeit für die Frauen, sie kümmerte sich um deren Gesundheit, aber auch um ihre soziale Lage. Wenn eine Frau in schwierigen sozialen Verhältnissen lebte, dann half sie mit allem, was möglich war. Dann gab es materielle und finanzielle Unterstützung, aber auch Beratung in persönlichen Dingen. Es kam sogar vor, dass sie die älteren Kinder mit zu sich nach Hause nahm, wenn eine Frau kurz nach der Geburt zu schwach war und sich nicht genug um sie kümmern konnte.

Mutti Sloot und ihr Selbstverständnis

Familiäre Spannungen blieben nicht aus, es gab manche Konflikte mit ihrem Ehemann, der nicht akzeptieren wollte, dass sie zu viel in ihrem Beruf arbeitete, und so schränkte sie ihre Tätigkeit in den fünfziger Jahren stark ein. Nach dem Tod ihres Mannes 1962 begann sie zusätzlich in der Privatklinik Veerßen als freie Hebamme zu arbeiten, mit bis zu 350 Geburten im Jahr. Dies bedeutete für sie sehr unregelmäßige Arbeitszeiten; manchmal blieb sie sieben Tage in der Klinik und schlief nur auf einer Pritsche im Entbindungszimmer. Viele Nächte wachte sie bei den Frauen und betreute sie mit großer Fürsorge. Kaiserschnitte wurden nur dann durchgeführt, wenn das wirklich nötig war. Sie nahm sich Zeit für die Frauen, und alles andere musste dann zurückstehen. Der enge Kontakt zu den schwangeren Frauen war ihr wichtig. So war es für sie ganz klar, dass sie die Frauen schon Wochen vor der Geburt regelmäßig untersuchte, oft genug auch bei sich zu Hause auf dem und der Gebärenden, sie empfand es als störend, wenn z.B. die Männer bei der Geburt dabei sein wollten.

Man muss sehr viel wissen, um nichts zu tun

Auch der Arzt wurde nur dann dazu geholt, wenn sie es für nötig hielt, was ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Hebamme voraussetzte. Dieses bestand zwischen Marie Sloot und dem damaligen Klinikarzt Dr. Becker, der ihre Kompetenz und Eigenständigkeit anerkannte und akzeptierte. Marie Sloot kannte die Kunst des Abwartens: Man muss sehr viel wissen, um nichts zu tun – so ein Leitsatz der Hebammen. Wer abwarten will, muss sich seiner Sache sicher sein und kluge Zurückhaltung üben. Im heutigen Klinikbetrieb scheint diese Weisheit in den Hintergrund geraten zu sein und gilt als eher altmodische Tugend. Nicht für Marie Sloot. Sie nahm sich viel Zeit für den menschlichen Kontakt, um nicht die Atmosphäre einer „Abfertigung“ aufkommen zu lassen.

Eine Uelzenerin, die zwei ihrer Kinder bei Marie Sloot entbunden hat, erinnert sich:

Vor der Geburt kam der diensthabende Arzt, um sich nach dem Befinden der Patientin zu erkundigen. Frau Sloot gab dem Mediziner zu verstehen, dass es sich bei der werdenden Mutter nicht um eine Kranke handele, die es zu behandeln und zu heilen gelte, sondern um eine gesunde Frau und ihre Fähigkeit zu einer natürlichen Geburt.

In diesem Zusammenhang ist ganz wichtig zu betonen dass es Marie Sloot nicht um ein Gegeneinander von Hebammen und Schulmedizin ging, sondern um ein Miteinander. Und „die Ärzte standen immer hinter ihr“ wie eine Krankenschwester und enge Freundin Marie Sloots berichtete. Es gab in Uelzen kaum jemanden, dessen Namen, Familie, Lebensgeschichte sie nicht kannte, denn irgendwann gab es in jeder Familie Uelzens eine Frau, die sie entbunden oder ein Kind, das sie „geholt“ im Laufe von 51 Jahren hatte sie über 5000 Kinder geholt. Das war ihre stehende Redensart:

,,Den oder die habe ich geholt!“

Sie holte auch das erste Kind von Beate* und Wolfgang*. Und so wollten beim zweiten Kind ein Jahr später die Eltern nicht auf den Beistand und die Hilfe von Marie Sloot verzichten. ,,Fristgerecht“ lieferte Wolfgang seine Frau in der Klinik ab; nicht nur in Erwartung des Kindes, sondern auch der Hebamme. Dann kam der Anruf um 7.00 morgens; ihr, Marie Sloots Auto spränge nicht an. Inzwischen geübt in “ Eiltransporten“ bot Wolfgang an, Frau Sloot von zu Hause abzuholen. Nach erfolglosem Reparaturversuch schob er das nicht funktionstüchtige Auto von der Straße, lud Marie Sloot ein, und Beate konnte ruhig und entspannt der Geburt der zweiten Tochter entgegensehen. Auf die Frage, was das Besondere an Marie Sloot gewesen sei, antwortete Beate: Sie hat den Müttern die Angst genommen.“

Marie Sloot beendete ihre Tätigkeit in der Klinik Ende der neunziger Jahre; es war der Zeitpunkt, als sich ihrer Ansicht nach die Bedingungen im Gesundheitswesen änderten. Schwangerschaftsvorsorge und Geburtshilfe entfernten sich immer mehr von dem Konzept der natürlichen Geburt, das sie vertrat. Diese Ansicht machte sie auch in einem Brief deutlich:

„Alles wird zu Risikoschwangerschaften gestempelt, 14 Stunden betreue ich eine Erstgebärende und in der letzten Viertelstunde wird alles plötzlich hektisch beendet, weil das besser in den Plan des Arztes passt.“

Auch nachdem sie in Rente gegangen war, kamen immer noch Frauen zu ihr nach Hause, um sich beraten und untersuchen zu lassen, und sie beriet und unterstützte auch ihre Nachfolgerinnen in der Klinik Veerßen, die bei Marie Sloot die“Universität des Lebens“ besuchten.

Was für eine Frau war Marie Sloot?

Ihr Sohn Hindrik beschreibt sie so: Sie hatte manchmal recht konservative moralische Vorstellungen,aber in ihrem Beruf stellte sie diese Einstellung hintenan:

„Egal ob es sich um eine angesehene Bürgersfrau oder um eine Prostituierte handelt: Ich betreue jede Frau gleich!“

Einigen Frauen, die ihr Kind nicht aufziehen konnten oder wollten, half sie, indem sie Adoptionen vermittelte.“ War Marie Sloot selbstbewusst? Sie war hautnah an einem neuen Leben, das erste Gesicht für ein neu- geborenes Kind, eine, die den Müttern die Angst nahm – ja, Marie Sloot war selbstbewusst!
Dazu noch einmal Hindrik Sloot:

Auch wenn sie gerne behauptete nicht zu wissen, wozu das Gerede über die Emanzipation der Frau qut sein sollte, und dass die Frauen zuallererst für ihre Familie da sein sollten, war sie doch selbst eine sehr emanzipierte, selbstbestimmte, selbstbewusste, manchmal auch dominante Frau, die sich von nix und niemandem reinreden lies. Eine Frau, die davon überzeugt war, den schönsten Beruf der Welt zu haben, einen Beruf, der ihr Lebensinhalt war.“

*Namen geändert

Dieser Beitrag ist auch in dem 2015 erschienen Band Frauen die Uelzen beweg(t)en zu finden. Herausgegeben von der Geschichtswerkstatt Uelzen e.V. .Dort dann mit detaillierten Quellen- und ergänzenden Angaben und weiteren Frauenpersönlichkeiten.

Fotos: Geese Thier

Autor

  • Renate Meyer-Wandtke

    Renate Meyer-Wandtke | Wohnhaft in Uelzen seit 1976. Lehramtsstudium an der Universität Osnabrück und bis zu ihrer Pensionierung Lehrerin an der Lucas-Backmeister-Schule in Uelzen. Mitglied der Geschichtswerkstatt Uelzen e.V..