Erinnerungen von Ursula Krusch, wohnhaft in Uelzen | Ich bin 1937 in Hamburg geboren, war zwei Jahre alt, als der Krieg anfing. Die ersten Jahre im Krieg hat man gar nicht so sehr gemerkt, aber ab 1941 gab es schon sehr viele Bombenangriffe auf Hamburg. Meine Eltern haben meinen Bruder und mich zweimal für acht Wochen mit unserer Oma aufs Land geschickt, weil es zu unruhig war, man konnte nachts einfach nicht genug durchschlafen, denn es gab immer Alarm.
Erzählen will ich eigentlich jetzt erst von 1943: Am 24.Juli war der sogenannte Feuersturm auf Hamburg. Um 18.00 Uhr sind wir in den Keller gegangen, in einen größeren ausgebauten Keller. Meine Mutter hatte sich vorher erkundigt, ob da auch Feldbetten waren. Mein Bruder und ich wechselten uns mit einem Bett ab. Jeder durfte einen Koffer mitnehmen und meine Mutter und meine Großmutter nahmen ihre Stadtkoffer mit. Das ist so ein Stadtkoffer, den hatten sie damals anstelle von Handtaschen. Der hier war jetzt im Nachlass meiner Mutter noch dabei.
In diesem Stadtkoffer waren die Papiere und unsere Mutter hatte darin auch unsere täglichen Silberbestecke. Das war dann manchmal sehr wichtig, weil es auf Sammelstellen und auf Bahnhöfen oft Suppe gab, aber keine Löffel zum Essen. Teile der Bestecke habe ich heute noch.
Als wir in diesen Keller gingen, fragte ich meine Mutter: „Was ist denn das? Das sind doch Beine.“
Meine Mutter antwortete: „Guck nicht hin, das sind tote Menschen.“ Das war das erste Mal, dass ich Tote gesehen hatte.
Sie waren bedeckt und bei den Angriffen vorher umgekommen und man hatte sie erst mal in den Kellereingang gelegt.
Später kamen Nazis in den Keller, hatte meine Mutter aufgeschrieben, die sagten: „Alle müssen aus dem Keller raus.“ – „Ist denn schon Entwarnung?“, wurde gefragt, aber sie sagten wieder, dass alle raus müssten.
Keiner wusste, warum, aber als man am Ausgang war, immer in kleinen Trupps, da wusste man, warum. Es brannte das Haus (es war eine Schule), unter dem der Keller war und das Nachbarhaus auch. Wir mussten dann
über den Schulhof gehen, der an einer Mauer endete. Dann hieß es, da muss man runterspringen und dann ist dahinter der Bürgerpark. Der Park war allen bekannt und mein Großmutter sagte:“Das kann ich nicht,
ich kann nicht mehr von einer Mauer springen.“ Aber da waren gleich Helfer zur Stelle, die ihr über die Mauer halfen.
Es durfte nichts mitgenommen werden, die Koffer mussten im Keller stehen bleiben, nur die Stadtkoffer durften mitgenommen werden. Mein Bruder und ich hatten eine große Gasmaskentasche umhängen aus
weißem Leinen, darauf hatte meine Großmutter die Anfangsbuchstaben unserer Namen gestickt. Das war das Einzige, was wir gerettet haben, unsere Gasmasken.
Dann kam Entwarnung, keiner wusste, wie spät es war, die Uhr meiner Mutter war stehen geblieben. Man wusste nicht, war es Tag oder Nacht, es lag eine Dunstglocke von dem Rauch über unserem Stadtteil. In dem Park war ein kleiner See, da hatte meine Mutter erst mal ihren kleinen Eimer aufgefüllt, den sie bei sich hatte. Das hatte sie im Luftschutzunterricht gelernt, einen Eimer mit Wasser mitzunehmen, mit Tüchern darin, die man sich vor das Gesicht halten konnte. Erst lachten alle darüber, aber später tauchten alle irgendwelchen Stoff in den Eimer, so dass er ganz schnell leer war.
Dann kam eine Polizeidurchsage: „Alle Frauen und Kinder müssen Hamburg verlassen, es kommen noch mehr Angriffe.“ Dann sind wir durch die brennende Stadt getigert, überall war es dunkel. Unterwegs haben wir Halt gemacht bei der Schwester meiner Mutter, da konnten wir uns ein bisschen waschen. Dann gingen wir zur Sammelstelle in den Barmbeker Stadtpark. Dort gab es massenhaft zu essen, man hatte die Lebensmittellager aufgemacht, man konnte haben, was man wollte. Wir Kinder haben uns überfressen, vor allem gab es so viel Obst und Sachen, die es sonst nicht mehr gab.
Es kommen Lastwagen, hieß es, und die bringen uns zum Bahnhof. Es hat den ganzen Tag gedauert, bis abends ein Lastwagen kam. Auf den sind wir sozusagen aufgeladen worden und es ging zum Altonaer Bahnhof in den Zug. Der Zug fuhr bis nach Neumünster in Schleswig-Holstein. Das ist eigentlich nicht weit, aber wir sind die ganze Nacht gefahren. In der Bahnhofsgaststätte in Neumünster gab es belegte Brote.
Als meine Großmutter von einem Toilettengang zurückkam, war eine Frau bei ihr, die sagte: „Ich suche mir immer Leute, denen ich helfen kann, ich habe gehört, Sie wissen nicht, wohin.“Und dann hat sie meine Großmutter, meine Mutter, meinen Bruder und mich mitgenommen in ihre Wohnung. Dort konnten wir erst mal schlafen und es gab Mittagessen. Eine ihrer Töchter, die schon ein bisschen älter war, ist dann mit meiner Mutter losgegangen zum Amt, damit sie erst mal Bezugscheine kriegte. So konnte sie für uns Kinder Schlafanzüge kaufen und ich bekam Schuhe, denn meine Schuhe hatten ein Brandloch neben dem anderen.
Ende Juli 1943 kamen wir dann in Uelzen an und in Groß Liedern unter.
Ich wurde Anfang September mit noch nicht ganz 6 Jahren in die einzügige Volksschule (alle 8 Klassen waren in einem Klassenraum) in Groß Liedern eingeschult. Meiner Mutter gelang es, eine Schiefertafel mit Schwamm und Griffelkasten in Uelzen zu kaufen und das trug ich stolz in meiner Gasmaskentasche zur Schule.
Meine Eltern und vor allem meine Großmutter (alles echte Großstädter) litten sehr unter den dörflichen Verhältnissen, der Enge und dem Angewiesensein auf die Verwandten. Einige Zeit später zogen wir in eine kleine Deputat-Arbeiterwohnung (mit Plumpsklo im Stallgebäude hinten im Hof und der Pumpe auf dem Hof), die uns der Bauer für Kriegsdauer mit Genehmigung des Wohnungsamts überlassen hatte, weil er mit Kriegsgefangenen arbeitete. Aber meine Mutter war froh, wieder einen eigenen Herd zu haben und in ihrer bestimmten und zielstrebigen Art schaffte sie es auch, Bezugsscheine zu bekommen, so dass wir uns notdürftig einrichten konnten. Und etwas war ganz wichtig – wir hatten wieder einen Garten.
Wir Kinder genossen die Freiheiten des Landlebens. Wir hatten zwar kein Spielzeug mehr, aber es gab Kinder, mit denen wir durch die Felder streiften, Verstecken auf dem Hof spielten und wenn es regnete, saßen wir auf der Treppe, die vom Parterre zu unserer Dachwohnung führte und mein Bruder erzählte von den Bombenangriffen auf Hamburg. Dann wurde Schule gespielt und er war natürlich der Lehrer. Das Kriegsgeschehen gehörte damals einfach zu unserem Leben. Wir sahen die Flugzeuge fliegen, kriegten auch mit, dass der Uelzener Bahnhof bombardiert wurde und hörten davon, dass Wohnhäuser in der Nähe des Bahnhofs zerstört wurden. Wir saßen in unserem Dorf; wir Kinder kamen nicht nach Uelzen. Wir waren nur froh, dass wir nachts nicht mehr in den Keller mussten. Was die Erwachsenen erzählten, ging irgendwie an mir
vorbei.
Diese“Landidylle“ änderte sich, als Anfang 1945 die vielen Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands kamen.Ein ganzes Dorf aus dem Kreis Wollstein wurde in Groß Liedern untergebracht und dazu kamen auch noch Flüchtlinge aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern. Die Mutter unserer Nachbarin und ihre zwei Kinder waren aus Ostpreußen gekommen und kurz vor Kriegsende kam auch noch der Vater. Er war gerade noch übers Haff gekommen, bevor die Eisschmelze einsetzte. Umso tragischer war es, dass er dann beim Beschuss durch die Engländer von einem Granatsplitter tödlich verletzt wurde. Der Bauer nebenan hatte um Löschhilfe für die brennende Scheune gebeten, unser Nachbar war trotz des Beschusses sofort dazu bereit und musste das mit seinem Leben bezahlen. Die Trauer war groß und alle waren froh, als der Beschuss aufhörte und die Engländer in die Häuser kamen. Wir saßen zusammengepfercht im Keller, die Erwachsenen in einem Kellerraum und wir Kinder hatten in dem anderen Raum gespielt.
Ein Soldat nahm einen Stift (wir hatten auf einem kleinen Tisch gemalt), schrieb und sagte: ,,Hitler kaputt.“
Groß Liedern war eingenommen, aber Uelzen noch nicht und es dauerte noch einige Tage, bis Uelzen aufgab und dabei stark zerschossen wurde.
Drei Fragen und ihre Antworten
Die Fragen ergänzen die persönlichen Berichte und sind einige Zeit nach der Gesprächsrunde gestellt worden.
Spüren Sie das Erlebte noch heute in bestimmten Situationen und wie gehen Sie damit um?
Ich habe ganz große Probleme mit dem Geräusch der Sirene. Wenn am 1. Montag des Monats um 12 Uhr die Sirene zur Probe ertönt, halte ich mir meistens die Ohren zu. Ebenso ergeht es mir mit lauten Knallgeräuschen wie Donner oder beim Feuerwerk.
Ist das Thema ,Krieg“ in der Nachkriegszeit in Ihrer Familie thematisiert worden und wie haben Sie Ihren Kindern und Enkelkindern Ihre Erlebnisse vermittelt?
Ja, es wurde über Krieg gesprochen, aber mehr so über das Schlimme, das erlitten wurde. Mit der Schuldfrage habe ich mich sehr viel später auseinander gesetzt und habe dann dazu auch meine Mutter befragt. Mit den eigenen Kindern haben wir versucht ein Stück Geschichte aufzuarbeiten. Das eigene Erleben (bei mir die Bomben, bei meinem Mann die Flucht aus Ostpreußen) spielte dabei auch seine Rolle. Den Enkelkindern (noch im Vorschulalter) habe ich erzählt, was es in unserer Kriegskindheit alles nicht gab.
Würden Sie sich als Angehörige einer traumatisierten Generation bezeichnen?
Nein! Vieles war auf dem Lande schön für uns Großstadtkinder.
Hintergründe zu dieser Idee (Drei Fragen und ihre Antworten) finden Sie hier.
Titelbild: „Zur Uelzener Chronik“, Sonderbeilage der „Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide“, April 1955