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…weil wir den Korb angenagelt haben

Erinnerungen von Hartmut Teichmann, wohnhaft in Uelzen | Ich wurde in der Firma meines Vaters immer „Judenohr-Teichmann“ genannt, weil ich Teichmann Junior war, aber „Juden“ klang zu der Zeit besser als „Junior“, das nur nebenbei. Ich bin 1943 aus Berlin ausgewiesen worden, als ich dort eigentlich eingeschult werden sollte. Ich sollte verschickt werden und mein Vater sagte: ,,Nein, das gibt es nicht.“ Und dann sagte mein Vormund, das war ein Regierungsrat damals: „Dann kriegt ihr keine Lebensmittelmarken.“ – „Gut“, sagte mein Vater, „das stört mich nicht.“ Mein Vater war zu der Zeit Gott sei Dank bei der Margarine-Union und Verbindungsmann zwischen dem Führerhauptquartier und seiner Firma Solo Feinfrost und wir wurden damit versorgt.

Ich habe in Berlin viele Angriffe gesehen, habe die Flugzeuge im Scheinwerferlicht gesehen und mein Vater sagte immer: „Was Spannenderes gibt es nicht.“ Und dann hieß es: „In den Keller!“ Es war furchtbar für mich im Keller. Es ist oben nie was passiert, aber das Nachbarhaus, das kriegte alles ab. Und das war für mich während des Krieges das schönste Erlebnis, wenn wir zu dem Nachbarhaus gingen und an den Löchern gestanden haben und durchgeguckt haben. Wir Kinder gingen dann in die nächste Etage und guckten runter.

So kam ich 1943 nach Uelzen, weil mein Vater die Schwester seiner verstorbenen Frau, die Gertrud von Issendorff, heiratete. Sein Schwiegervater war der Propst von Issendorff in Uelzen. Da war es einfach in dem großen Haus zu wohnen, sie hatten 17 Zimmer.
Viele Leute waren aus Hannover oder Hamburg gekommen, weil dort die Wohnungen brannten, das hat mich aber gar nicht weiter gestört. lch habe vom Krieg in Uelzen zunächst eigentlich gar nichts mitbekommen. Nur den Kirchturmbrand habe ich erlebt. Eine Bombe schlug ein und wir mussten alle aus dem Keller raus.
Einer unserer Mitbewohner hatte einen kleinen Leiterwagen mitgenommen, da war ein Sack drin. Da posaunte meine Mutter los: „Das geht nicht, das geht nicht, was willst du damit, du musst was fürs Schlafen besorgen.“ Und so wurde dann der Wagen wieder zurückgeschoben. Nachher hat sich rausgestellt, er hatte da Zucker drin, aber der war einfach zu schwer.

Meine Großmutter hatte den Kinderwagen, da war mein Bruder drin, zwei Monate alt, der kleine Kerl. Wir sind aus der Haustür raus, in die Pastorenstraße, bis zur Ecke, wo Kaufmann Seegers seinen Laden hatte. Der stand in der Tür, mit seinem prächtigen Schnauzbart und sagte: „Ja, die Wunderwaffe wirkt“ Welche meinte er? Die V2! Und er berichtete dann, dass sie davon 5600 Stück hätten, das reicht ja aus, sie bräuchten dann den Kirchturm hier nicht anzuzünden. Und er machte den Arm hoch und sagte: „Sie würden dann fliegen und fliegen und fliegen und dann würde sie platzen und das war’s dann.“ Mein Großvater sagte: „Unmöglich der Kerl, hier brennt doch alles.“ Aber Herr Seegers war sich seiner Sache sehr sicher. Und dann schepperte es furchtbar, eine
Turm-Kupfer-Dachplatte war runtergefallen. Mein Großvater ging um die Ecke vom Laden. Eine Frau rief aus dem Fenster: „Herr Probst, jetzt aber keine Beerdigung!“, weil mein Großvater seinen Talar über dem Arm hatte und er sagte: „Nee, nee, mache ich nicht.“
Und wir gingen dann immer weiter in der Gudesstraße, dann in die Rademacherstraße und dann in die Lindenstraße bis unten an die Wipperau.

Ich habe immer nach hinten geguckt, ich habe nichts vom Kirchturm gesehen und dann winkte einer der Männer, der unten an der Brücke stand, wir sollten rüber kommen. Das war gut, wir haben den Kinderwagen mitgeschoben, weil er für meine Großmutter alleine zu schwer war.Und dann sind wir auf das Landratsamt zu gegangen, sind dann links abgebogen und da habe ich den brennenden Kirchturm gesehen. Das war für mich ganz schlimm.
Dann sagte meine Großmutter plötzlich: ,,Flieger, Flieger, hinlegen!“ Und ich habe mich hingeschmissen und dann kam tatsächlich eine Spitfire2 herunter geflogen und ich bildete mir ein, der Pilot habe eine Brille aufgehabt. Er flog weiter runter auf uns zu, bis er schließlich über uns hinweg war. Meine Großmutter hatte ihren Mantel ausgezogen und über den weißen Kinderwagen geworfen. Und dann sagte meine Großmutter: „Kommt, aufstehen!“ Ich hatte damals Hausschuhe an, das waren geknüpfte Hausschuhe, ganz große Latschen und dann musste ich damit loslaufen. Ich hatte auch einen wunderbaren Trenchcoat an, den ich nicht ausziehen durfte, weil meine Großmutter sagte: „Den brauchen wir noch. Wir gehen jetzt in den Wald nach Woltersburg.“

Hartmut Teichmann, * 14.08.1937 in Berlin, wohnhaft in Uelzen | Foto: Hans-Jürgen Wandtke

Der Forst wurde die „Deine“ genannt. Wir, das war auch Margret, die mir als gleichaltriges „Flüchtlingsmädchen“ seit Monaten vertraut war, gingen den schnurgeraden Weg durch den Wald bis zum Dorfeingang von Woltersburg. Rechterhand war eine Wiese. Circa 100 Meter vor uns sah Margret auf einem Bauernhof ihre Eltern und lief direkt zu ihnen. Wir (Großmutter mit Kinderwagen und ich) gingen um die Wiese herum durch einen wunderschönen Vorgarten bis zum Terrasseneingang des Bauernhauses in die Halle, in der wir von vielen im Haus versammelten Menschen begrüßt wurden. Wir wurden in ein Südzimmer im 1. Stock mit Blick zum Obstgarten geführt. Drei Teichmanns hatten ein Zimmer für sich. Die Großeltern hatten ebenfalls ein Schlafzimmer für sich. Es war der 17. April 1945.

Wir trafen uns mit dem Hausherrn, ,Großbauer“ Petersen, und seiner Frau, den Großeltern (diensthabender Propst von Uelzen), der Zahnarztfamilie mit 3 Kindern und einer Familie mit einem Jungen zum gemeinsamen Abendbrot in der riesigen Küche. Und dieser Platz war der „anheimelndste“ Platz zum Schwatzen für uns alle in den nächsten Tagen.
Ehemalige Fremdarbeiter, die jetzt ohne Bindung an ihre frühere Hof-Arbeitsstelle herumvagabundierten, plünderten am Tag oder auch nachts den Hof. Wir mussten vor allem Schuhe für deren Bedarf opfern und was denen beim Kofferdurchwühlen so in den Sinn kam. Das hörte auf, als eine Woche später an einem schönen Sonnentag ein Panzer mit vorweglaufendem „Schwarzen“ auf dem Petersenschen Hof Halt machte. Es folgte eine sehr – wie mein Großvater betonte – disziplinierte dreitägige Besetzung der Scheunen des Hofes. Es war für uns Kinder eine wunderbare Ablenkung mit den Soldaten und ihrem Kriegsgerät. Das nächtliche oder tägliche Plündern hörte auf!

Nur am ersten Abend wäre uns fast etwas passiert, die Alliierten machten nämlich Hausdurchsuchung (Suche nach sich versteckenden Soldaten), alle mussten in ihren dunklen Zimmern sein. Mein zwei Monate altes Bruderherz schlief in seinem zum Bettchen gewordenen Wäschekorb. Ein Soldat klopfte und trat ein. Er guckte gleich in das Wäschekörbchen und lachte den kleinen Kerl fröhlich an: „Oh, what a nice baby!“, rief er meiner Mutter zu. Die bejahte und sagte „We call him Dickerchen“ und sie schaltete die Taschenlampe ein, um Dickerchen zu beleuchten. „Oh! That’s what I need: a pocket lamp!“ Und er bat Mutter, sie ihm zu geben. Jetzt merkten wir auch wofür. Er öffnete die kleine Tür zum Dachnebenraum und leuchtete in die dunkle Höhle. „Nobody there!“ sagte er. „May I have the light for the other rooms?“, fragte er sehr höflich mit Blick auf Dickerchen. ,Yes, you are allowed“, sagte Mutter. „But please bring it back for the night.“

Nach einer halben Stunde kam er mit der Lampe zurück. Er wollte mit Dickerchen noch ein bisschen albern und machte Anstalten, den Wäschekorb zu heben. Doch das ging nicht. In dem Korb war nämlich unser schweres Bestecksilber versteckt. Und Mutter rief: „Das kann nicht gehen, weil wir den Korb angenagelt haben!“ Das verstand er wohl!

Nach drei Monaten war mein Vater mit einem Lastwagen der Margarine-Union aus Berlin über Bernburg/Saale nach Hamburg gekommen und mein Großvater bekam eine Dienstwohnung anstelle des abgebrannten Pfarrhauses in Uelzen, und zwar das ehemalige SA-Gebäude und vormalige evangelische Jugendheim. Das Haus hatte 14 Zimmer und reichte für 4 Familien: Großeltern und Tochterfamilie (insgesamt 5 Personen), dreiköpfige Küsterfamilie und aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Archidiakon-Pastor (oder auch Erzdiakon) mit vierköpfiger Familie und einem Hausmädchen.

V2 steht für „Vergeltungswaffe 2“; eine mit 1000 kg schweren Sprengköpfen bestückte Rakete, die von Sept. 1944 bis März 1945 auf London und andere Ziele in England abgefeuert wurde. (Johannes Leicht, „Die Wunderwaffen“ V1 und V2, Deutsches Hist. Museum Berlin 2015)
Spitfire: britisches Jagdflugzeug, das während des Zweiten Weltkriegs an allen Fronten eingesetzt wurde. (Alfred Price, The Spitfire Story, Leicester 2002)

Drei Fragen und ihre Antworten

Die Fragen ergänzen die persönlichen Berichte und sind einige Zeit nach der Gesprächsrunde gestellt worden.

Spüren Sie das Erlebte noch heute in bestimmten Situationen und wie gehen Sie damit um?

Nein, kann ich nicht sagen. Auch heutiges heulen von Sirenen ist für mich kein Problem.

Ist das Thema ,,Krieg“ in der Nachkriegszeit in Ihrer Familie thematisiert worden und wie haben Sie Ihren Kindern und Enkelkindern Ihre Erlebnisse vermittelt?

Es wurde in der Familie nicht über den Krieg und seine Auswirkungen gesprochen. Ich habe eine Kindheit ohne solche Gespräche gehabt.

Würden Sie sich als Angehörige einer traumatisierten Generation bezeichnen?

Nein, ich habe eigentlich eine schöne Kindheit gehabt.

Hintergründe zu dieser Idee (Drei Fragen und ihre Antworten) finden Sie hier.

Titelbild: „Zur Uelzener Chronik“, Sonderbeilage der „Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide“, April 1955

Autoren

  • Renate Meyer-Wandtke

    Renate Meyer-Wandtke | Wohnhaft in Uelzen seit 1976. Lehramtsstudium an der Universität Osnabrück und bis zu ihrer Pensionierung Lehrerin an der Lucas-Backmeister-Schule in Uelzen. Mitglied der Geschichtswerkstatt Uelzen e.V..

  • Sigrid Salomo

    Sigrid Salomo, zwei Kinder, wohnhaft in Uelzen seit 1979, Lehramtsstudium an der Pädagogischen Hochschule Berlin und bis zur Pensionierung als Lehrerin an der Sternschule in Uelzen tätig. Mitglied der Geschichtswerkstatt Uelzen seit 2014.