Erzählcafé 9 | Juni 2015

Uelzen 1945 – Kriegskinder erzählen

Einleitung

2015 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum siebzigsten Mal und dieses Ereignis war Anlass genug, um an das Ende der Herrschaft des Nationalsozialismus und des dadurch verursachten Leides zu erinnern. Für viele Menschen bedeutete das Kriegsende aber zunächst nicht Frieden und Freiheit, sondern sie mussten in Nachkriegsdeutschland mit den Folgen des Krieges zurechtkommen – der Zerstörung der Städte, der Not, dem Hunger, der Flucht und Vertreibung.

Nach 70 Jahren gibt es nicht mehr viele Menschen, die den Krieg im Erwachsenenalter erlebt haben. Aber es gibt noch die damaligen Kinder, die in einem vom Krieg geprägten Land aufwuchsen. Oft waren die Eltern dieser Kinder nicht in der Lage, ihre eigenen Erfahrungen zu verarbeiten. Die Nachkriegsjahre waren zudem mehr auf den ›Wiederaufbau‹ ausgerichtet und schufen eher ein Klima der Verdrängung, das verhinderte, sich aktiv der Vergangenheit zu stellen.

Das Erzählcafé im Juni 2015

Die Geschichtswerkstatt Uelzen e. V. hatte anlässlich der Erinnerung an das Kriegsende 1945 in Uelzen zu einem Erzählcafé am 12. Juni 2015 in die Woltersburger Mühle eingeladen. Moderiert von Sigrid Salomo und Gerard Minnaard sollten Menschen zu Wort kommen, die als Kinder das Kriegsende in Uelzen erlebt haben. Heute gehören sie zunehmend zur letzten Zeugengeneration, die in direkter Weise über die eigenen Erlebnisse und Gefühle berichten und somit ein authentisches Bild vom damaligen Lebensalltag vermitteln kann. Erzählerinnen und Erzähler, die dazu bereit waren, waren schnell gefunden. Ihre Erinnerungen haben wir aufgezeichnet.

Wir haben Menschen zu Wort kommen lassen, die als Kinder an einem bestimmten Zeitpunkt (Kriegsende) unterschiedliche Erlebnisse hatten, die sie für ihr weiteres Leben mehr oder weniger stark geprägt haben.

Die vielen Rückfragen und Redebeiträge aus dem Publikum haben gezeigt, wie groß der Bedarf ist einander zuzuhören, zu erzählen und sich auszutauschen. Es war eine lebendige aber auch kontroverse Gesprächsrunde mit einem Facettenreichtum an Erinnerungen, der immer wieder überraschte.

Die unauffällige Generation

Vergessen wir aber nicht: Alles Erlebte dieser Generation ist die Folge einer menschenverachtenden, verbrecherischen Politik, die mit der Machtübernahme Hitlers 1933 ihre vermeintliche Legitimation erhielt. Jeder Mensch ist geprägt durch bestimmte Ereignisse in seiner Kindheit und Jugend. Dies kann für Menschen, die als Kinder Krisenzeiten überstehen mussten, lebenslange Folgen haben. Und Erwachsene konnten ihnen oft nur wenig Halt bieten, weil sie selbst hilflos waren.

Die Journalistin Sabine Bode berichtet in ihrem Buch ›Die vergessene Generation‹, wie es heute den deutschen ›Kriegskindern‹ geht. Sie hat herausgefunden, dass diese unauffällige Generation – geboren zwischen 1930 und 1945, erzogen zu Stillschweigen und Disziplin – sich schwertut, über den Krieg zu sprechen, den sie damals als ›normalen Zustand‹ empfunden hat. Sie wurde erzogen, ihn zu akzeptieren und nicht in Frage zu stellen.

Umso mehr wissen wir es zu schätzen, dass diese ›Kriegskinder‹ heute bereit sind über ihre Erlebnisse zu berichten. Dazu haben wir Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in unser Erzählcafé eingeladen. Sie schildern ihre Eindrücke von Kriegs- und Nachkriegszeit. Welche Erinnerungen haben sie und wie wurden sie von ihnen geprägt? Damals waren sie Kinder und Jugendliche; heute gehören sie zunehmend zur letzten Zeugengeneration, die in direkter Weise über die eigenen Erlebnisse und Gefühle berichten kann.

Anmerkungen der Moderation

Gerard Minnaard: Es gibt bestimmte Erfahrungen, die man macht, die sehr schwierig, sehr unterschiedlich sind. Ich finde es beeindruckend, wenn erzählt wird, der Kirchturm brannte und alle weinen und gleichzeitig ist da ein Kaufmann, der sagt, die V-Waffen, die werden es schaffen. Alles gleichzeitig an einem Ort, alles widersprüchliche Erfahrungen und es ist gut, das voneinander zu hören.

Und das Andere ist natürlich die Erkenntnis, die man dadurch gewinnt, dass man über Erfahrungen nachdenkt. Man könnte wahrscheinlich stundenlang erzählen und auch erstaunlich detailliert. Alles, was man erzählt, hängt unmittelbar mit 1933 zusammen, gleichwohl und weil wir zeitlich weiter sind, hat man auch gemerkt, dass diese dramatischen Erfahrungen wichtig sind und ihren Platz brauchen. Vielleicht kann man ja auch davon lernen.

Moderation: Gerard Minnaard und Sigrid Salomo.

Heute haben wir es auch wieder mit Flüchtlingen zu tun, die aus Kriegsgebieten kommen. Mich würde interessieren, ob das miteinander zu tun hat, dass damals Menschen auf der Flucht gewesen sind und dass jetzt wieder Menschen kommen, die auch auf der Flucht sind und die zum Teil auch nicht willkommen sind. Vielleicht kann man etwas lernen, wenn man hört, wie schlimm es ist, auf einmal ohne Vater, ohne Mutter, mit nichts da zustehen und so mit dem Leben fertig zu werden.

Sigrid Salomo: Unser Thema war ›Kriegskinder‹ und wenn wir an Kriegskinder denken, dann denken wir sofort an Opfer, deutsche Kriegskinder waren Opfer.

Deutsche waren aber auch Täter, das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, vor allem den Beginn 1933.
Zum Schluss möchte ich mich bei Ihnen für Ihre Bereitschaft zur Teilnahme an diesem Erzählcafé bedanken und dafür, dass Sie uns an Ihren teilweise sehr ergreifenden Erinnerungen teilhaben ließen. Ich denke, es ist wichtig, dass diese damals weitgehend verschwiegenen Geschichten, die eine ganze Kindheitsgeneration prägten und, wie wir wissen, sich teilweise auch auf die nächste Generation übertragen haben, heute erzählt werden.

Wichtig, einmal für die Einzelnen, die erzählen, aber auch für die Identität und Zukunft der Deutschen als Europäer und vor allem zum Bewahren unserer Sensibilität für die aktuellen Flüchtlingsdramen, bei denen wieder Kinder die Hauptleidtragenden sind.

Redebeiträge aus dem Publikum

Wie bei einem Erzählcafé üblich, kommen nicht nur die Erzählenden zu Wort, sondern auch die Zuhörenden. Hier einige Auszüge aus den Wortbeiträgen:

Sie sagten, die Bevölkerung hat nichts mitgekriegt; auf dem Lande stimmte das. Aber etwas haben wir mitgekriegt, wir haben immer darauf geachtet, wo der Briefträger hingeht. Dann kam wieder ein Trauerbrief: ›Gefallen für Führer und Vaterland‹. […] Ich habe eine sehr starke Mutter, sie hat uns durch alles gebracht, sie war noch schwanger und hat sich um die Verwundeten gekümmert. Am ersten Tag schrien alle nach Frau Schulz. Mama musste los, wenn wieder was passiert war, mit dickem Bauch, Gummistiefeln und Trainingsanzug. Aber sie hat es geschafft, hat meinen jüngsten Bruder noch entbunden. […] Mich stört etwas allgemein, Sie können jetzt sagen, ich war ein Nazi. Wenn Sie sagen, wir sind befreit worden, dann stimmt das für 50%, aber die anderen haben für Deutschland ihr Blut gegeben.

Eigentlich darf ich mich hier gar nicht äußern. Denn ich bin zu klein gewesen 1945, um mich zu erinnern. Dennoch glaube ich, gerade in der Beschäftigung mit meiner Kindheit und in Gesprächen mit meinen Eltern ist mir klar geworden, dass traumatische Folgen stärker in mir stecken, als ich lange Zeit begriffen habe … Ich habe als Zweijähriger schon lernen müssen, mein Mäntelchen zu schnappen, in den Keller runter zu laufen und ich wusste, dass etwas ganz Schreckliches sein musste. […] Ich glaube, dass diese Dinge, ganz früh schon großes Kind sein zu müssen und etwas mitzuerleben, was man nichtbegreift, Wirkungen haben.

Ich glaube, dass es auch ganz wichtig ist, dass wir einen gewissen Rahmen herstellen, der als historisch bezeichnet wird. Alles, was an Folgen des Krieges passiert ist, an Krieg, an Vertreibung, an schrecklichen Dingen, ist vom 30. Januar 1933, von der Machtergreifung durch Adolf Hitler nicht zu trennen. Wenn wir diesen Zusammenhang nicht herstellen, jammern wir auf hohem Niveau. Wir müssen uns im Vergleich immer wieder vor Augen halten, allein bei der Belagerung von Leningrad sind 900.000 Menschen verhungert. In deutschen Städten sind durch Bombenangriffe etwa 800.000 Menschen umgekommen, beim Bombenangriff auf Stalingrad sind allein 40.000 Menschen getötet worden. […] Das ist doch unsere Vergangenheit, dass wir trotz dieser schrecklichen Erfahrungen nicht in der Lage waren, das Leugnen zu durchbrechen.

Ich habe mit meinen Eltern nur im Streit über die Zeit geredet. Mein Vater, der in der NSDAP war, hat sich natürlich verteidigt und ich bin auch sicher, das war ein anständiger Mensch, er war dennoch in dieses ganze System eingebunden, es konnte sich ja niemand daraus freimachen. Mit ist es jedoch wichtig zu fragen: »Was habe ich daraus gelernt?« Mein Vater hat mich aus dem Haus geschmissen, als ich mit den Ostverträgen anfing, das war schlimm. Ich habe trotzdem etwas Wichtiges gelernt, ich weiß, dass ich mit Menschen nur friedlich zusammenleben kann, wenn ich sie kenne. Und als Ostpreußen frei war, das war 1990, bin ich sofort mit meinen Geschwistern dorthin gefahren. […] Die Menschen müssen zusammen kommen.

Drei Fragen und ihre Antworten

Nach dem Erzählcafé haben wir uns einige Male getroffen und uns aus getauscht. Dabei entstand die Idee, allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen drei gleichlautende Fragen zu stellen. Diese Fragen und Antworten ergänzen die persönlichen Berichte.

Während die Berichte im Erzählcafé sich auf einen konkreten Zeitpunkt – nämlich das Kriegsende – bezogen, wollten wir mit unseren Fragen herausfinden,

  • wie lang der Schatten eines Krieges ist (Frage 1),
  • ob und wie man über einen einschneidenden Zeitpunkt seines Lebens mit einer nachgeborenen Generation sprechen kann (Frage 2) und
  • ob diese Geschehnisse Wunden, also Traumata, hinterlassen haben (Frage 3).

Wir haben bewusst den Begriff ›traumatisierte Generation‹ im Sinne von ›verwundete Generation‹ benutzt, auch wenn Sabine Bode bei den Recherchen für ihre Veröffentlichung ›Die verlorene Generation‹ aufgefallen ist, dass diese Generation es oft ablehnt, als traumatisiert eingeschätzt zu werden. Wir wollten vor allem wissen, ob das auch auf unsere geladenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zutrifft.