Erzählcafé 11 | 10. November 2023
Alles nur ein Spiel?
Krawall und Bombendrohung während der Aufführung der Schul-Theater-AG 1977

Veranstaltung der Geschichtswerkstatt Uelzen e. V. am 10. November 2023 um 17:00 Uhr auf der Hinterbühne des Theaters an der Ilmenau.
Am 23. März 1977 führte die Theater-AG des HEG und LEG das Stück ›Sie nannten ihn Leo‹, eine kritische Bearbeitung des NS-Propagandastückes ›Schlageter‹ von Hans Johst, unter der Regie von Dr. Walter Blohm auf. Die Aufführung nahm einen denkwürdigen Verlauf: sie wurde von einigen Rechtsradikalen unter Führung des einschlägig vorbestraften Manfred Röder massiv gestört. Mit einem ›Erzählcafé‹, an dem auch einige damals Beteiligte teilnehmen werden, will die Geschichtswerkstatt Uelzen e.V. an dieses Ereignis erinnern und über einen angemessenen Umgang mit dem Thema ›Rechtsradikalismus‹ diskutieren.

© Stadt Uelzen
Interessierte sind am 10. November um 17:00 Uhr auf der Hinterbühne des Theaters herzlich eingeladen.
Die Adresse: Theater an der Ilmenau, Greyerstr. 3, 29525 Uelzen.
Der Eintritt ist frei.
»Sie nannten ihn Leo«
Erinnerung an zwei denkwürdige Theateraufführungen der Theater-AG der Uelzener Gymnasien 1977
Unter diesem Titel zeigte die Theater-AG des Herzog-Ernst- und des Lessing-Gymnasiums unter der Leitung von Dr. Walter Blohm im Frühjahr 1977 ihre aufsehenerregende Produktion: die Bearbeitung des Stückes ›Schlageter‹ von Hanns Johst, dem späteren Präsidenten der Reichsschrifttumskammer – und an dieses denkwürdige Geschehen erinnerte die Geschichtswerkstatt Uelzen am 10. November 2023 mit einem Erzählcafé. Von den damaligen Ereignissen erzählten Klaus Nührig, der damals den ›Leo‹ spielte, Thorsten Kleinschmidt, der eine Doppelrolle innehatte, und Karin Berger, die Souffleuse. Auch im Publikum waren etliche Zuhörerinnen und Zuhörer, die mit eigenen Erinnerungen zum Gespräch beitrugen. Leider nicht anwesend war der Regisseur: Dr. Walter Blohm konnte krankheitsbedingt nicht zu dem Gespräch erscheinen.
»In liebender Verehrung und unwandelbarer Treue«
Hanns Johsts erste literarische Versuche im Ersten Weltkrieg waren noch stark vom Expressionismus und sogar Pazifismus geprägt; bald wandte er sich aber immer mehr nationalistischem Gedankengut zu. Mit seinem dieser Aufführung zugrunde liegenden Theaterstück wollte dem von ihm so gefeierten »ersten Soldaten des Dritten Reiches« Albert Leo Schlageter ein literarisches Denkmal setzen und zugleich national-sozialistische Ideen propagieren. Das Stück – das zwischen 1929 und 1932 entstand – widmete er Adolf Hitler »in liebender Verehrung und unwandelbarer Treue«.
Es blieb für längere Zeit sein letztes literarisches Werk, dafür schlug er eine steile Karriere in Partei und SS ein, die ihn, den Duz-Freund von Heinrich Himmler, in höchste Ämter führte. Das Stück wurde am 20. April 1933, zum Geburtstag des ›Führers‹, uraufgeführt – es beeindruckte Hitler sehr.
In der Spielzeit 1933/34 gab es in mehr als 1.000 deutschen Städten von 115 Theatern Aufführungen des Stücks, was Johst knapp 50.000 Reichsmark an Tantiemen einbrachte. Es wurde sogar Schullektüre. Allerdings nahm bald die Zahl der Inszenierungen stark ab, weil es in den folgenden Jahren zeitweilig als »antifranzösisch« auf den Index des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda gesetzt wurde, denn Hitler wollte einen feindseligen Eindruck gegenüber den Nachbarstaaten vermeiden.
Albert Leo Schlageter

Schlageter wurde zu Lebzeiten eigentlich nur mit seinem Taufnamen Albert gerufen, von den Nazis aber wurde er mit seinem zweiten Namen Leo benannt, sicherlich wegen des bedeutsameren und Stärke verheißenden Klangs. Geboren 1894 als sechstes von elf Kindern einer katholischen Bauernfamilie im Schwarzwald, meldete er sich gleich nach dem Notabitur im Dezember 1914 als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg. Den gesamten Kriegsverlauf verbrachte er an der Westfront und wurde 1918 mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet für »besonders riskante Patrouillen«.
Nach der Beendigung des Krieges brach er zwei Studiengänge (Theologie und Nationalökonomie) bald ab und schloss sich verschiedenen Freikorps an, unterstützte den Kapp-Putsch und wirkte bei der Niederschlagung des linken Märzaufstands im Ruhrgebiet 1920 mit. 1922 traf er gemeinsam mit zwei Freikorpsführern Adolf Hitler in München und plante mit ihnen zusammen den Parteiaufbau in Norddeutschland. Da die NSDAP vom preußischen Innenminister Severing Ende 1922 verboten worden war, wurde stattdessen als Tarnorganisation die Großdeutsche Arbeiterpartei (GDAP) gegründet, allerdings bald darauf ebenfalls verboten.
Während der Ruhrbesetzung durch französische Truppen 1923 kämpfte er als Mitglied der ›Gruppe Heinz‹ gegen die französische Besatzung durch Sabotageaktionen (Sprengung von Bahngleisen) und gegen mögliche oder tatsächliche Spitzel, wobei auch Fememorde verübt wurden. Anfangs von den politischen Stellen und der Polizei unterstützt, wurden sie später von den Behörden wegen Terrorismus verfolgt und verhaftet und den französischen Behörden übergeben, auch die anfängliche Zustimmung in der Bevölkerung schwand bald wegen der harten Reaktionen der französischen Besatzungsverwaltung. Die Regierung unterstützte dagegen durch Hilfszahlungen den gewaltfreien, passiven Widerstand der Bevölkerung im Generalstreik, der schließlich auch erfolgreich war.
Schlageter wurde am 7. April 1923 unter unklaren Umständen (Unvorsichtigkeit?, Verrat?) von französischen Beamten festgenommen und zusammen mit einigen Mitstreitern vor ein Militärgericht gestellt, das ihn am 9. Mai zum Tode verurteilte – dies wurde am 26. Mai durch Erschießen vollstreckt. Damit blieb er der einzige hingerichtete Straftäter, die anderen wurden zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Deshalb wurde Schlageter von den Nationalsozialisten zum Märtyrer des vaterländischen Kampfes gemacht. Der Ruhrkampf bildet den Hintergrund, vor dem das Stück sich abspielt: Es ist ein Aufruf zur völkischen Revolution.
Eine Multimedia-Show und ein Politclown

Die von Walter Blohm und der Theater-AG auf die Bühne gebrachte Fassung war eine starke Bearbeitung des Originalstücks, die in revuehafter Form (Kleinschmidt: »Heute würde man sagen: eine Multimedia-Show«), unterstützt durch die Kommentare eines ›Politclowns‹ und kontrastiert mit an die Bühnenwand geworfenen Bildern von Kriegszerstörungen, den Gewalt- und Blutmythos herausstellt und als politischen Widersinn entlarvt.
In diesem Zusammenhang erwähnte Klaus Nührig, dass die Mitwirkung bei dieser Aufführung ihn in seinem Wunsch, Lehrer zu werden und auch Schultheater zu organisieren, bestärkt habe und dass ihm noch zwei Textstellen des Stückes im Gedächtnis geblieben sind: »Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Browning« und »Das Volk muss nach Priestern schreien, nach Priestern, die schlachten«. Dabei seien Bilder von den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges eingeblendet worden.
In der AZ-Ankündigung der Premiere am 5. Februar 1977 wird Walter Blohm folgendermaßen zitiert: »Sinn dieser Inszenierung ist es, den Schülern und uns allen klarzumachen, wie leicht man, auch als Zuschauer einer Theaterhandlung, ideologisch verführt werden kann. Die Möglichkeit solcher Manipulation aufzudecken, heißt, kritischer zu werden auch dem gegenüber, was uns heutzutage auf der Bühne angeboten wird«. Schon diese Ankündigung war wohl für einige erzkonservative und rechtslastige Kreise Grund genug, erzürnte Leserbriefe zu schreiben und die Vorstellung mit einer Bombendrohung zu stören. Die während der Pause von der Polizei mit Spürhunden durchgeführte Suche nach einer Bombe war aber zum Glück erfolglos, sodass die Aufführung trotz der empörten Zwischenrufe einiger Zuschauer abgeschlossen werden konnte.
Im AZ-Bericht darüber wird der als »Pennäler-Aufführung« herabgewürdigten Inszenierung, der immerhin »ein witzig agierendes Ballett, ein paar flotte Songs« zugestanden wurden, wofür es dann auch »großen Applaus« gab, vorgeworfen, »dass Pädagogen unter dem Deckmantel der erklärten Absicht, politische Mechanismen aufdecken zu wollen, ihre Schüler in ein Abenteuer führen, das sie gar nicht bewältigen können«. Dazu sagte Karin Berger, dass es alle schon »sehr erbost« hatte, dass sie in der Presse als »kleine Dummchen« hingestellt wurden, wogegen sie immerhin sich gerade aufs Abitur vorbereiteten und auch genau wussten, dass sie in einer »braunen Gegend wohnten« – eine Feststellung, die von mehreren Zuschauern, die von eigenen unangenehmen und teilweise bedrohlichen Erlebnissen berichteten, im späteren Gespräch bestätigt wurde. Sicher waren sowohl die Darsteller wie auch der Regisseur von der Heftigkeit der Reaktionen überrascht, die sich in zahlreichen bitterbösen Leserbriefen äußerten. Dass Schlageter sogar noch 1977 auch in konservativen Kreisen (z. B. der damalige Landrat) und nicht nur bei Neo-Nazis ein nationales Idol war, war überraschend.
Es folgten weitere Aufführungen: in Harburg und als Einladung zu einem Theatertreffen in Hamburg, wo die Aufführung im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses stattfand. Die Polizei war dort sehr zahlreich erschienen und der Einsatzleiter versuchte die Schauspieler zu beruhigen. Diese Aufführung wurde ebenfalls wegen einer Bombendrohung unterbrochen, schon kurz nach Beginn wurde sie durch ständiges Gegröle gestört, ein Zuschauer erinnerte sich, dass die zahlreichen Rechtsradikalen im Chor brüllten: »Haut den Roten auf die Pfoten«, bis sie schließlich von der Polizei abgeführt wurden. Die Situation wurde von den Schauspielern besonders deshalb als bedrohlich empfunden, weil wegen der Anlage des Malersaals die Neonazis mit Leichtigkeit die Bühne stürmen konnten.
Turbulente Aufführung in Uelzen
Am 23. März 1977 fand die zweite Aufführung in Uelzen statt. Wegen der Unruhe bei der Premiere war ein Einsatztrupp der Polizei (drei oder fünf Beamte – an die genaue Zahl konnte sich der damalige Schulleiter Bruno Uszkurat nicht erinnern) anwesend. Doch der war den dieses Mal sehr zahlreich anwesenden Rechtsextremen (etwa 30 Leute), angeführt von dem einschlägig vorbestraften Ex-Anwalt Manfred Roeder, hoffnungslos unterlegen. Roeder und seine Anhänger, die durchweg Jugendliche oder junge Erwachsene waren und nicht aus Uelzen und Umgebung kamen, sprengten die Aufführung. Sie verlangten eine Diskussion, die Uszkurat nach kurzer Rücksprache mit dem Einsatzleiter der Polizei zuließ, um die Situation zu beruhigen und der Polizei die Gelegenheit zu geben, Verstärkung zu organisieren. Das dauerte etwa eine halbe Stunde, in der Roeder ungehindert seine Parolen von der Bühne verbreiten konnte.
Nührig erinnerte sich an die Behauptung Roeders, er habe die toten Juden »alle noch in New York und Johannesburg getroffen«. Dies kommentierte Kleinschmidt so: »Der hat sich im Grunde um Kopf und Kragen geredet«. Uszkurat wurde mit Eiern beworfen und etliche Zuschauer verließen aus Protest gegen Roeders Schwadroniererei das Theater. Andere äußerten ihr Missfallen mit Pfiffen während Roeders Rede. Als schließlich die polizeiliche Verstärkung eintraf, flüchteten Roeder und seine Anhänger aus dem Theater auf den Parkplatz, wo sie aber festgenommen wurden. Die Aufführung ging danach ungestört weiter und zu Ende.
Es gab bereits eine lebhafte Berichterstattung in der Presse und außerdem hatte Walter Blohm gute Beziehungen zum NDR. Daher war ein Kamerateam des NDR anwesend, das das Geschehen filmte und später in einem Vorabendbericht des NDR3 zeigte. Diese Ereignisse führten also dazu, dass nicht nur in der AZ weiter eine heftige Leserbriefschlacht geführt wurde, sondern dass ein breites mediales Echo entstand. Dabei war die Resonanz auf die Aufführung in der überregionalen Presse durchweg positiv.
Dennoch fanden weitere, schon geplante Aufführungen (Lüneburg und Bremen) nicht statt, obwohl der Schulrat ausdrücklich seine Zustimmung erteilte – vielmehr wurde es den Kollegien an den einladenden Schulen die Sache nun zu brenzlig. Berger erinnerte sich, dass ihre Eltern ihr zwar nie die Mitwirkung an dieser Aufführung ausgeredet hätten, dass sie dennoch über das Ende erleichtert gewesen seien.
Feinde des deutschen Volkes?
Kleinschmidt berichtete noch von einem ›Nachspiel‹: er hat noch im selben Jahr einen Brief aus Südafrika erhalten, in dem ihm mit Bezug auf die Aufführung angedroht wurde, sein Name stünde nun mit einer Nummer auf der Liste der ›Feinde des deutschen Volkes‹ und man werde ihn noch erwischen. Dass Befürchtungen wegen Gewaltanwendung durchaus berechtigt waren, zeigte sich auch in den Steinwürfen auf das Wohnhaus von Dr. Blohm, sodass er seine Familie aus Sicherheitsgründen zu den Eltern ausquartierte; er selbst erhielt Morddrohungen und wurde mehrere Wochen in seinem Haus durch ständige Polizeistreifen geschützt.
Was hat diese Aufführung bewirkt? Hat sie überhaupt etwas bewirkt? Berger erklärte, dass die Mitwirkung an dieser Aufführung ihr politisches Bewusstsein geschärft habe. Kleinschmidt wandte aber ein, dass die darstellerischen Methoden heute anders sein müssten. Aber Martin Lessmann (damals schon Student und nur mit einer kleinen Rolle beteiligt) fasste zusammen: »Letzten Endes haben wir etwas sichtbar gemacht, was heute sichtbar ist«.