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‚Gastarbeiter‘ der zweiten Generation

Die Migrationserfahrung der sogenannten „Gastarbeiterkinder“ ist eine andere, als die ihrer Eltern, denn die Entscheidung zur (provisorischen) Auswanderung trafen sie nicht direkt. Herausgerissen aus einer kulturellen und sozialen anders strukturierten Welt, mussten sie in Deutschland ohne den Halt ihrer Großfamilie und ihrer Freunde klarkommen. Das Erlernen der neuen Sprache erschwerte und prägte ihre Bildungsbahn – von der anfänglichen Einstufung in niedrigeren Klassen bis zur Beeinflussung ihrer Berufswahl. Ein pädagogisches Konzept für ihre Integration war nicht vorhanden.

Anwerbeabkommen mit Portugal

Am 17. März 1964 schloss die Bundesrepublik Deutschland ein Anwerbeabkommen mit Portugal ab. Für die BRD handelte es sich um das siebte der bilateralen Verträge mit einem südeuropäischen Land, wobei das erste bereits 1955 mit Italien abgeschlossen worden war. Die sogenannte „Gastarbeiterära“ erstreckte sich offiziell bis zum „Gastarbeiterstopp“ in Folge der Wirtschaftskrise 1973. Das Abkommen mit Portugal lag somit in der Mitte dieses Zeitraums. Der höchste Stand erreichte die Ausländerbeschäftigung im Herbst 1973 mit 2,6 Millionen (Bundesanstalt für Arbeit: Ausländische Arbeitnehmer, Beschäftigung, Anwerbung, Vermittlung – Erfahrungsbericht 1972/73, Nürnberg 1974, S. 3).

Während in der BRD die Arbeitskräfte knapp waren, herrschte in Portugal Mitte der 1960er Jahre eine wirtschaftliche Krise mit hoher Arbeitslosigkeit. Dennoch nicht nur wirtschaftliche sondern auch politische Gründe bewegten viele junge Menschen, Portugal zu verlassen. Das Land war diktatorisch regiert und wurde erst nach der sogenannten Nelkenrevolution 1974 eine Demokratie.

Die Gruppe der Portugiesen stellte zwischen den „Gastarbeitern“ eine niedrige Quote dar (s. Tabelle). Die größte portugiesische Gemeinschaft konzentrierte sich zuerst in Hamburg. Heute leben die meisten Portugiesen in Berlin. (s. Bertolaso, Marco: Die stillen Nachbarn. 50 Jahre Portugiesen in Deutschland, Deutschland Funk (13.9.2014).

Verteilung der Ausländerbeschäftigung in der BRD nach Nationalitäten in Prozent

Nationalität/LandIn % – Januar 1973
Türken22,5
Jugoslawen19,8
Italiener17,5
Griechen11,4
Spanier7,6
Portugiesen2,9
Marokkaner0,7
Tunesier0,5
Quelle: Bundesanstalt für Arbeit: Ausländische Arbeitnehmer, Beschäftigung, Anwerbung, Vermittlung – Erfahrungsbericht 1972/73, Nürnberg 1974, Tabelle 5, S. 9.

Fatima Bonhage erzählt ihre Erfahrungen als „Gastarbeiterkind“ im Landkreis Uelzen:

Herkunftsland Portugal

Ich war neuneinhalb Jahre alt, als ich nach Deutschland kam. Es war Oktober im Jahr 1977. Es ging alles spontan in Portugal. Meine Eltern waren schon hier. Wir Kinder haben jahrelang bei meinen Großeltern gelebt. Zwischendurch war Mama immer wieder in Portugal. In dieser Zeit war mein größerer Bruder für mich mein bester Freund, und das ist er heute noch.

Meine Eltern sind wegen der Arbeit hergekommen. Zuerst war allerdings alles unsicher… , ob sie übernommen würden… Wir drei Kinder sind daher nachgekommen. Meine Familie stammt aus einem Dorf in der Nähe von Porto. Papa ist gleich zu Thörmer [Möbelfabrik in Wrestedt, LK Uelzen]. Er hatte sich dort beworben.

Wir haben die ganzen Jahre in Wrestedt in den Thörmer-Blocks gewohnt.

Die erste Zeit in Deutschland

Die erste Zeit war für mich schon eine große Umstellung. Ich konnte die Sprache nicht. Drei Wörter konnte ich, die hatte mein Papa mir beigebracht: ja, nein und „nichts verstehen“. Das waren die drei Wörter, die ich konnte. Und dann knapp zwei Wochen (später nach meiner Ankunft) bin ich zur Schule gegangen hier in Deutschland. Zwei Mitschülerinnen haben sich um mich gekümmert. Sie haben mir alles gezeigt, und sie waren immer bei mir. Meine „Babysitter“, sagen wir mal… und dann musste ich Deutsch lernen. Ich habe in Portugal die vierte Klasse besucht und musste hier in die dritte. Dann musste ich die vierte Klasse wiederholen, wegen der Sprache. Eine Sprachförderung gab damals nicht. In Mathe war ich weiter, weil ich zurückgestuft worden bin. Einmal wurde ich rangenommen, da plapperte ich auf Portugiesisch, mir war in dem Moment nicht bewusst gewesen, dass ich nicht in meiner Heimat bin. Es war mir hinterher so peinlich… , aber das kam so einfach heraus, einfach heraus. Ansonsten, soweit ich mich daran erinnern kann, habe ich nie Probleme gehabt. Die Mitschüler waren immer nett zu mir. Nie wurde ich als Ausländer ausgegrenzt. In Sportvereinen habe ich gut mitgemacht: Kinderturnen, (dann war ich bei den Jugendlichen schon dabei) dann Tischtennis gespielt, Leichtathletik und Jazzgymnastik.

Die Umstellung

Die ersten Zeit war durch diese ganze Umstellungen schwer: die Sprache konnte ich nicht, die neue Schule, ein anderes Klima – in dem Winter habe ich das erste Mal Schnee gesehen… Da kamen ganz viele Eindrücke auf einmal.

Meine Eltern haben auch Deutsch gelernt aber sie beherrschten die Sprache nicht so gut wie wir Kinder. Papa fiel es schon schwer, Deutsch zu lernen. Und Mama hat schon ganz gut gelernt. Aber wir Kinder haben schon ziemlich schnell gelernt, vielleicht geht es auf eine kindliche Art und Weise schneller.

Das Ziel der Eltern, die Lebensentscheidung der Kinder

Meine Eltern sind vor 23 Jahren zurückgegangen, als Papa berentet wurde. Es war immer ihr Traum gewesen. Sie haben in den ganzen Jahren dort ein Haus gebaut, da wurde jeder Cent reingesteckt. Mein Papa ist seit zehn Jahren tot, Mama wohnt noch in Portugal. Ich war letztes Jahr bei meiner Mama zu Besuch. Ich habe dort auch Cousinen, einen Neffen und eine Nichte… Onkel und Tanten habe ich auch noch da.

Ein Bruder ist nach Luxemburg gegangen – ist aber schon zehn Jahre her, meine Schwester wohnt in Uelzen. Sie ist damals mit meiner Mutter mitgegangen, weil sie noch ein Baby war.

Mein Papa hat zuerst nur ein Zimmer in den Thörmer-Blocks gehabt. Es gab eine Gemeinschaftsküche und ein Gemeinschaftsbad. Da waren Jugoslawen, ein Portugiese der Daniel hieß. Außerdem lebte dort eine andere portugiesische Familie – Alberto.

Was wurde beibehalten?

Was ich aus Portugal beibehalten habe: Wenn ich rechne, rechne ich immer noch auf Portugiesisch und dann auf Deutsch um. Das ist kompliziert, aber ich kriege das nicht anders hin!

Ich denke noch Portugiesisch, ich koche noch Portugiesisch und auch wenn ich so viele Jahre in Deutschland bin, Portugal wird immer meine Heimat bleiben. Ist einfach so… Ich will die portugiesische Staatsangehörigkeit behalten, sonst wäre ich nicht mehr ich selber. Ich könnte das nicht mit mir vereinbaren. Früher hatte ich immer den Wunsch nach Portugal zurückzugehen. Dann mit den Kindern.. wollte ich meinen Kindern nicht das gleiche antun, wie ich damals… weil es doch schon ein ziemlich harter Schritt ist. Einfach in ein fremdes Land zu ziehen. Meine Kinder waren gerne in Portugal, aber im Urlaub ist es etwas anderes, als wenn man zu Schule muss und alles Mögliche… das wollte ich meinen Kindern nicht antun.

Im Heimatland

In Portugal fühle ich mich genauso heimisch wie hier auch und das komische ist nur, ich empfinde mich hier als Ausländer, und wenn ich in Portugal bin, werde ich als Deutsche bezeichnet.

Früher hat mich mein langer Namen gestört – heute bin ich stolz auf meinen Namen. Hier sage ich aber nur Fatima, weil das jeder verstehen kann.

Ich liebe Portugal. Die Mentalität der Leute und das Klima. Manche Sachen finde ich in Portugal einfach schöner. Diese Zwischenmenschlichkeit. Nicht diese Gier oder Neid, nicht so extrem. Innerlich werde ich immer portugiesisch bleiben.

Abschrift aus einem telefonischen Gespräch mit Fatima Bonhage (Bad Lauterberg) am 20. Mai 2021.

Autor

  • Gabri Machini

    Gabri Machini-Warnecke | Historikerin, Dr. phil. (*9.1.1964) Studium der Geschichte an der Università degli Studi di Trieste (I), Promotion an der Leibniz Universität Hannover Freiberufliche Museumspädagogin Schwerpunkte: „Gastarbeiter“ in der Landwirtschaft, Lokalgeschichte des 20. Jahrhunderts