Erinnerungen von Fridun Schlamkow, geb. Mentasti, wohnhaft in Uelzen | Wir flohen aus Forst/ Görlitzer Neiße, das ist heute der Grenzübergang zu Polen. Es war eine Fabrikstadt und daher wohl für die Russen besonders interessant. Und im Winter 1944/45 rückten die Russen vehement durch Schlesien in Richtung auf die Oder-Neiße-Linie, die berühmt-berüchtigte, zu. Im Februar 1945 erging dann die Aufforderung, dass die Zivilbevölkerung die Stadt zu verlassen habe.
Also machten wir uns auch auf den Weg: meine Mutter, 37, ihre Mutter, also meine Großmutter, 60 Jahre, mit gerade überstandener Oberschenkelfraktur, sie war also schwerst gehbehindert, mein sechsjähriger Bruder und ich. Und wir machten uns mit dem Zug auf, erst mal in Richtung Berlin, das war am 18. Februar. Das meiste, was ich erzähle, weiß ich natürlich von den Erzählungen meiner Mutter; aber an ein schönes Erlebnis erinnere ich mich ganz deutlich, das weiß ich von mir selbst. Und zwar hatte meine Mutter mehrere Gläser eingekochte Erdbeeren aufgemacht, in eine Milchkanne gefüllt und als Proviant mitgenommen. Wir Kinder konnten im Zug davon so viel essen, wie wir wollten und das empfand ich als wunderbar. Insgesamt habe ich das Ganze wahrscheinlich nur als einen Ausflug angesehen, ich konnte mit vier Jahren die Tragweite all dessen natürlich gar nicht überblicken.
In Berlin blieb unser Zug unverhältnismäßig lange stehen, bis sich dann herausstellte, dass der Gepäckwagen nicht mitgekommen war und darauf gewartet werden sollte. Inzwischen wurden wir aber vertröstet,das Gepäck wird nachgeliefert, wir fahren jetzt weiter. Das wollte meine Mutter sich aber nicht gefallen lassen, denn die letzten paar Sachen, die wir hatten, wollten wir aber nun doch wirklich mitnehmen. Und da sie eine energische Frau war, hat sie auf das Bahnpersonal furchtbar eingeredet und auch Krach gemacht und durchgesetzt, dass der Zug so lange wartete, bis der Gepäckwagen angekoppelt war. Ob das nun unterwegs noch mal passiert ist, weiß ich nicht. Jedenfalls hat es vier Tage gedauert, bis wir in Uelzen angekommen sind.
In Uelzen wurden wir sofort aus dem Bahnhof herausgebracht, und zwar in das Herzog-Ernst-Gymnasium, damals natürlich in der Schillerstraße. Aber unsere Mutter war natürlich wieder darauf bedacht, unser Gepäck vom Bahnhof zu holen und musste uns wieder verlassen. Das Ganze war für mich nicht so furchtbar, nur, wenn wir Kinder unsere Mutter aus den Augen verloren, dann begann die große Panik. Ja, und sie ging los, zum Bahnhof zurück. Es war der 22. Februar und Sie wissen alle, dass das der Tag war, an dem der Uelzener Güterbahnhof bombardiert worden war. Und während meine Mutter nun auf dem Bahnhof war und Gott sei Dank gerade in der Unterführung, da ging das Bombardement los. Wir anderen saßen in der Schule.
Der Bahnhof wurde abgesperrt, aber als er dann wieder geöffnet war, ist sie mit Hilfe eines Hitlerjungen über irgendeinen Drahtzaun geklettert und Auf dem Rahlande gelandet. Als Ortsunkundige war es dann doch eine ganz schöne Leistung, zum Güterbahnhof zu finden. Aber da bot sich ihr natürlich ein Bild des Grauens. Sowohl die Schienen als auch die Güterwagen waren teilweise in die Erde gebohrt von den Bomben, die andere Hälfte ragte in den Himmel. Alle Gebäude, alles war zerbombt und kaputt. Aber es gab einen kleinen Fleck, ein paar Quadratmeter, die nichts abbekommen hatten, zwischen den total zerstörten Schienen.Und auf diesem kleinen Fleckchen standen ein Kinderwagen (siehe Foto) und ein Handwagen mit Koffern aufgeladen und das war unser Gepäck völlig unbeschädigt und alles war vorhanden. Kinderwagen inmitten der zerstörten Gleise
Und sie hat es wirklich geschafft, unser Gepäck durch das Chaos von Schienen und zerstörten Wagen hindurch zu bugsieren und zum Bahnhof zurückzufinden.
In der Schule war aber inzwischen auch einiges passiert. Durch die Druckwellen der Bomben waren da die Fenster zersplittert und die Scherben waren durch die Gegend geflogen und meine Großmutter war total von oben bis unten mit Splittern gespickt. Aber ihre beiden kleinen Enkel hatte sie wie eine Glucke in ihren Armen und unter sich geborgen, uns war nichts passiert. So fand meine Mutter uns dann wieder.
Am gleichen Tag, es war aber inzwischen mindestens Abend, wenn nicht sogar Nacht geworden, wurden wir wieder aus der Schule heraus-gebracht und auf die Dörfer verteilt. Ein Trecker nach dem anderen fuhr an der Schule vor und holte die Flüchtlinge ab. Wir waren vorgesehen, auf den Trecker nach Wichtenbeck zu kommen, saßen dann aber doch plötzlich auf einem Trecker nach Dreilingen. Und ich glaube, das war eine gute Fehlentscheidung. Wir wurden also nach Dreilingen gefahren. Ich erinnere mich an ein Gefühl, als wir zwischen Bargfeld und Niebeck waren, da ging der Weg durch einen hohen Fichtenwald, da konnte man durch die Fichten hindurch plötzlich den Sternenhimmel sehen und das erregte in mir ein Gefühl von Glück und Freude. Es war kein Fliegeralarm
mehr zu hören, es war ganz friedlich, und dieses Gefühl habe ich mein ganzes Leben lang bewahrt und werde es auch nie vergessen. Dann wurden wir zunächst beim Bürgermeister ausgeladen, aber dann weitergeschickt zu den Höfen, auf die wir gebracht werden sollten. Und als wir dort ausgeladen wurden, kamen wir durch einen Garten auf eine Veranda, durch eine Diele in eine ganz große Bauernküche. In dieser Küche war ein großer Tisch gedeckt, denn die Bauern hatten sich natürlich vorbereitet, dass da hungernde Menschen kommen würden.
Eine riesige Schüssel mit Milchsuppe dampfte auf dem Tisch und auf dem Herd brutzelten die Bratkartoffeln, daneben stand ein großer Topf mit Specksoße.
Drei Fragen und ihre Antworten
Die Fragen ergänzen die persönlichen Berichte und sind einige Zeit nach der Gesprächsrunde gestellt worden.
Spüren Sie das Erlebte noch heute in bestimmten Situationen und wie gehen Sie damit um?
Heute nicht mehr. Aber in den ersten Jahren war es aufgrund unserer extremen Armut und unserer schlechten Wohnverhältnisse (4 Personen lebten 8 einhalb Jahre in einem Zimmer) alltäglich gegenwärtig.
Als wir im Oktober 1953 in eine Neubauwohnung in Uelzen umziehen konnten, löste sich dieser Druck. Doch ich hatte jahrelang Beklemmungen, wenn ich in die Nähe des Bahnhofs kam. Da wir in der Hauenriede (Sternviertel) wohnten, musste ich täglich durch die beiden Unterführungen und am Aufgang zum Güterbahnhof vorbei gehen. Auch Eisenbahnen in anderen Orten verursachten diese Beklemmungen. Ähnlich
erging es mir – und das ist manchmal noch heute so – bei Sirenengeheul oder wenn ich Männer in Uniformen sah bzw. sehe.
Ist das Thema ,,Krieg“ in der Nachkriegszeit in Ihrer Familie thematisiert worden und wie haben Sie Ihren Kindern und Enkelkindern Ihre Erlebnisse vermittelt?
Ein gezieltes Thematisieren war nicht erforderlich, da das Alltagsgespräch immer wieder darauf kam, insbesondere beim zufälligen oder geplanten Treffen mit Bekannten mit ähnlichen Erfahrungen. Auch konnten wir beobachten, dass unsere Kinder in der Schule so viel vom Krieg erfuhren, dass sie ein direktes Ansprechen in der Familie gar nicht mehr mochten. Die Enkelkinder fragen naturgemäß nach den Lebensbedingungen der Großeltern in deren Kindheit und Jugend. Dann bekommen sie die entsprechenden Antworten.
Würden Sie sich als Angehörige einer traumatisierten Generation bezeichnen?
Nein! Aber ich habe erst sehr spät begriffen, dass das, was mich jahrzehntelang belastet hatte, eine direkte Folge des Krieges war, dass ich keine ordentliche Schulbildung absolvieren konnte. Wir lebten in dem zwar sehr idyllischen Dörfchen Dreilingen, an das ich viele schöne Kindheitserinnerungen besitze, aber es war sehr weit entfernt von Uelzen. Dass vorrangig mein älterer Bruder, der aufgrund einer kriegsbedingten Tuberkulose erst zwei Jahre zu spät umgeschult werden konnte, nach Uelzen in die Schule geschickt wurde, verursachte unserer Mutter schon genügend finanzielle Probleme. Es war neben dem Fahrgeld und der Anschaffung von Büchern und anderem Unterrichtsmaterial auch noch jeden Monat Schulgeld aufzubringen. Da Mutter das nicht immer
bewältigte, hatten wir dann auch mal Besuch vom Gerichtsvollzieher. Aber er fand bei uns absolut nichts zu pfänden. Mutter war froh, wenn sie uns jeden Tag satt bekam.
Also blieb ich in der Dorfschule und die letzten anderthalb Jahre in der Volksschule in Uelzen, Taubenstraße. Beim Zusammentreffen mit Schülerinnen der weiterführenden Schulen (z.B. im Konfirmandenunterricht) machten sie uns Volksschülern leider recht deutlich klar, dass wir Menschen zweiter Klasse waren. Der anschließende Besuch der Handelsschule ermöglichte mir dann doch noch das Erreichen der Mittleren Reife und den Eingang in eine Lehre bei der Kreissparkasse.
Hintergründe zu dieser Idee (Drei Fragen und ihre Antworten) finden Sie hier.