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Der Kirchturm brennt

Erinnerungen von Freia Baumann, geb. Tegeler aus Uelzen | Es war im April 1945:
Wir hatten ja bisher wenig vom Krieg mitbekommen, dann kamen die beiden Luftangriffe und wir mussten in den Keller. Dann hieß es, Uelzen wird verteidigt. Am Rathaus stand ein Panzer, von dort wurde geschossen. Aber wir mussten ja im Keller bleiben, deswegen habe ich heute noch eine Phobie. Nur Fräulein Stiebig rannte immer raus, um zu gucken, was es Neues gab. Eines Tages schrie sie:

„Der Kirchturm brennt. Ich muss es fotografieren“.

So entstand die legendäre Aufnahme des brennenden Kirchturms.

Frau Stiebig, später verheiratete Polchow, war Fotolaborantin im Fotogeschäft Tegeler.

Freia Baumann *09.04.1934 geb. Tegeler, aus Uelzen | Foto: Hans-Jürgen Wandtke

Dann hieß es plötzlich, wir müssen alle raus, meine Mutter mit meiner kleinen Schwester im Kinderwagen, mein Bruder, Fräulein Stiebig und ich. Wir durften nichts mitnehmen, auch meine Geschenke nicht – ich hatte am 9. April Geburtstag -, die hatte ich ja mit in den Keller genommen. Dann ging es Richtung Holdenstedt. Wir gingen durch die Schuhstraße, durch einen Gang, und da kamen uns zwei „Feinde“ entgegen. Und wir hatten ja ein Bild von den Feinden, sie waren ja Menschenfresser oder so ähnlich. Und die beiden kamen, Helme auf, und trugen den Kinderwagen den Tritt hinauf. Und ich dachte: „Was ist das denn, das sind ja nette Menschen!“

Die Schuhstraße brannte bereits, wir sind dann am Schwimmbad vorbei zu Fuß Richtung Holdenstedt gegangen bis zur Scheune der Familie von der Wense. Wir bekamen aber ein Privatquartier, weil meine Mutter ja das Baby hatte. Und es gab was zu essen: Pellkartoffeln mit Zwiebelsoße.

Dieser Beitrag entstammt der Broschüre zum Erzählcafé „Kriegskinder erzählen“ 2015.

Nach drei Tagen hieß es, wir könnten wieder zurück. Wir gingen zurück und standen vor dem Nichts! Wir hatten nur das, was wir trugen, alles war abgebrannt. In unserem Keller hatten wir viele Kohlen gelagert das brannte vier Wochen lang.

Und mein Vater war nicht dabei, er war ja eingezogen. Wir waren dann bei einer Freundin untergebracht, bekamen später vom Amt ein Zimmer zugewiesen. Und Kleidung bekamen wir im Hotel Drei Linden“ aus einer Kleidersammlung der „Church of Scotland“.
Insgesamt sind wir sicher zehnmal umgezogen, bis meine Eltern in den fünfziger Jahren dann ein Haus gebaut haben. Das waren insgesamt sehr einschneidende Erlebnisse für ein Kind ich war damals 11 Jahre alt – und die Eindrücke von damals sind sehr präsent geblieben.
Vielen Dank!

Drei Fragen und ihre Antworten

Die Fragen ergänzen die persönlichen Berichte und sind einige Zeit nach der Gesprächsrunde gestellt worden.

Spüren Sie das Erlebte noch heute in bestimmten Situationen und wie
gehen Sie damit um?

Ich habe erst als Erwachsene gemerkt, dass ich mich in Kellerlokalen und Partykellern unwohl fühle und führe das auf unseren einwöchigen Aufenthalt im Keller bei der Einnahme von Uelzen zurück.

Ist das Thema ,Krieg“ in der Nachkriegszeit in Ihrer Familie thematisiert worden und wie haben Sie Ihren Kinder und Enkelkindern Ihre Erlebnisse vermittelt?

Das Thema Krieg war in unserer Familie schon ein Thema, aber im positiven Sinne. Es wurde mehr darüber gesprochen, wie meine Eltern über die Kriegs- und Nachkriegszeit mit viel Energie und Arbeit gekommen
sind; und so habe ich es auch meinen Kindern vermittelt. Die wahren Schrecken des Krieges haben uns nicht erreicht. Ich habe in der Zeit gelernt mit wenig zurechtzukommen, was mir mein ganzes Leben lang
geholfen hat.

Würden Sie sich als Angehörige einer traumatisierten Generation bezeichnen?

Nein.

Hintergründe zu dieser Idee (Drei Fragen und ihre Antworten) finden Sie hier.