Erinnerungen von Rolf Schlichtenhorst aus Uelzen | Mein Vater war“uk“ (unabkömmlich) gestellt, weil unser Betrieb als kriegswichtig eingestuft war. Wir hatten vier Fremdarbeiter‘, einer war Italiener, die anderen waren Belgier, also Flamen. Der eine, Robert, der hat sich immer mit mir abgeschleppt, und wenn Fliegeralarm war, ab in den Bunker. Er hat mir auch mal einen Bauernhof gebastelt und dazu gehört dieser Storch. Den habe ich Jahre später in einer kleinen Blechschachtel wiedergefunden.
Was ich vom Krieg erzählen wollte: Mein Vater hat 1943 einen Bunker bauen lassen, der steht heute noch auf dem Hof. Wer ihn sich angucken möchte, kann das gerne tun. Wir wussten, dass es zu Ende geht, mein Großvater hatte gerufen: „Die Engländer sind schon am Bohldamm!“
Dann sagte mein Bruder: Ich muss mal pinkeln.“ Tja“, sagte meine Mutter, „da rechts neben dem Bunker, da steht der Grafensteiner.“ Er geht hin und mit einem Mal fängt er an wie am Spiels zu schreien. Wir alle raus, und da waren die Engländer schon an der Wiesenstraße und guckten über die Mauer am früheren Hotel „Stadt Frankfurt“. Mein Bruder stand da am Baum, und da kam eine Tellermine.
Bei den englischen Soldaten gab es auch Dunkelhäutige, und meine älteren Geschwister, die mir Angst machen wollten, sagten, sie seien ,,Menschenfresser“. Und unsere Eltern hatten uns schon alles Mögliche erzählt, was die mit uns machen würden, aber kurz und gut – sie gaben uns Schokolade!
Als der Kirchturm brannte und in sich zusammenstürzte, da haben wir alle geheult. Und als die Kirchturmteile auf die Dächer der Nachbarhäuser flogen, kletterten Männer auf die Dächer, um mit Wassereimern Nachbrände zu verhindern.
Ich habe dies alles ja schon einmal erzählt in dem Film“Die letzten Kriegstage in Uelzen“.
Was bleibt: Wenn ich das Geräusch von Motorflugzeugen höre, ist mir unwohl. Und als wir im Bunker saßen und meine Mutter zitterte, fragte ich, warum sie zittert, und sie sagte: „Mir ist kalt“. Sie hatte natürlich Angst, aber ich mit meinen 3 1/2 Jahren wusste sicher nicht, was das ist oder warum man Angst haben muss. Aber eines steht fest: Viele von uns aus diesen Jahrgängen haben später unter diesen Kriegserfahrungen gelitten.
Drei Fragen und ihre Antworten
Die Fragen ergänzen die persönlichen Berichte und sind einige Zeit nach der Gesprächsrunde gestellt worden.
Spüren Sie das Erlebte noch heute in bestimmten Situationen und wie gehen Sie damit um?
Als in der Ringstraße die Gastanks mit einem Tieflader abgeholt wurden, erinnerte mich das Geräusch an schweres Kriegsgerät und ich bekam Gänsehaut. Das Gleiche passiert, wenn jemand mit einer Taschenlampe mit Dynamoantrieb (gibt es heute kaum noch) hantiert- diese Geräusche bleiben im Ohr. Oder die Geräusche von Reifen mit Naturkautschuk die die Engländer während des Krieges benutzten – sie klangen ganz anders
als unsere und waren und sind entsprechend unheimlich. Wieder und wieder ist mir das aufgefallen, als ich -Jahrzehnte später – in Malaysia war.
Noch heute kann ich den Turm der Marienkirche nicht angucken, ohne an den Brand und den Zusammensturz zu denken.
Ja, wie geht man damit um? Eigentlich kommt man schnell wieder drüber weg; der Verstand sagt einem ja, es ist vorbei. Aber im Inneren, im Unterbewusstsein – ich weiß nicht.
Es gibt Erinnerungsstücke aus der Zeit, die einem sehr wichtig geworden sind. Über den Storch habe ich ja schon berichtet. Ein weiteres Stück ist ein Kreuzanhänger. Den trug immer Robert van den Bulke, der bei uns gearbeitet hat und mit dem wir manche Stunden im Bunker verbracht haben.
Als er uns nach Kriegsende verließ, heftete er das Kreuz an einen Hosenträger meines Vaters. Später erhielt mein Vater einen Brief von ihm, im dem er an die Zeit in Uelzen und über die gute Behandlung berichtete.
Diese beiden kleinen Gegenstände, die ich sehr in Ehren halte, liegen zusammen in einer kleinen Schatulle.
Ist das Thema ,Krieg“ in der Nachkriegszeit in lhrer Familie thematisiert worden und wie haben Sie Ihren Kinder und Enkelkindern Ihre Erlebnisse vermittelt?
Viele Jugendliche winken ab, wenn das Thema,Kriegserlebnisse“ angesprochen wird. Das liegt zum einen an der leider vorhandenen Sprachlosigkeit zwischen den Generationen; zum anderen musste ich feststellen, dass es diese Sprachlosigkeit auch innerhalb der jungen Generation gibt. Lieber kommuniziert man mit dem Smartphone. Aber es gibt auch Ausnahmen:
Nachdem die Geschichtswerkstatt Uelzen den Film „Kriegsende in Uelzen 1945“, in dem ich ja mitwirke, fertiggestellt hatte, wurde ich in die Schule eingeladen, um über meine Erlebnisse zu berichten. Ich habe dabei auch die Schüler und Schülerinnen beobachten können und festgestellt, dass sie ein echtes Interesse an meinen Schilderungen hatten.
Ich glaube, das lag daran, dass ich authentisch und ehrlich berichtet habe und vor allem nicht mit erhobenem Zeigefinger. Das zeigte sich auch an den Fragen und Anmerkungen der Klasse. Vor einigen Tagen las ich in „Die Zeit“ den Spruch des Philosophen Immanuel Kant: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
Ich möchte das ergänzen:
Glaubt nicht alles, was man euch sagt. Sprecht auch mit Menschen, die anderer Ansicht als ihr seid. Und glaubt nicht die einfachen Antworten.
Würden Sie sich als Angehörige einer traumatisierten Generation bezeichnen?
Ja, auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen. Wir haben das Grauen erlebt, aber unsere Eltern versuchten, in diesem Grauen „Normalität“ herrschen zu lassen. Wie geht das?
Als vom Güterbahnhof die Leichen auf einem Leiterwagen an unserem Haus zum Friedhof gebracht wurden, hielt es uns nicht davon ab, unmittelbar danach auf dem Güterbahnhof zu spielen. Wir haben mit der Munition, mit der vorher Menschen getötet oder verletzt wurden, gespielt. Als Kinder haben wir es wohl geschafft, das Grauen nicht an uns herankommen zu lassen, aber im weiteren Leben geht das nicht mehr. Wenn du so etwas erlebt hast – wie kannst du da nicht traumatisiert sein?
Hintergründe zu dieser Idee (Drei Fragen und ihre Antworten) finden Sie hier.