Erinnerungen von Siegfried Kaul aus Uelzen | Am 13. April 1945 war Fliegeralarm. Unsere Mutter, mein Bruder Otto und ich suchten im Stadtwald bei der Klappenbachvilla am Forstgarten Schutz. Unsere Mutter unterhielt sich mit einem deutschen Soldaten. Das Brummen der Flugzeuge in großer Höhe beunruhigte uns nicht. Diese hatten ihre Bomben sicherlich schon in Berlin oder Dresden abgeladen und waren auf dem Rückflug. Doch das Brummen einiger Flugzeuge wurde immer lauter. Sie flogen in geringer Höhe, etwa 400 Meter hoch über die Ebstorfer Straße.
Der Soldat, mit dem sich meine Mutter unterhielt, hatte Erfahrung und rief: „Jetzt geht’s los!“ Der Soldat lief in eine Richtung. Unsere Mutter hatte Otto und mich an der Hand. Wir wollten hinter ihm her laufen, er rief aber: „Deckung!“ Unsere Mutter riss uns zu Boden und warf sich auf uns. Ich sah, wie die Bomben zündeten und im Erdboden explodierten. Die Erde bebte, die Bäume brachen wie Streichhölzer. Es dauerte nur Sekunden und es war wieder still.
Wir wollten den Soldaten suchen und fanden ihn. Er lag in einem Bombentrichter und war tot. Wir erkannten ihn an seiner Uniform. Der halbe Körper war mit Sand bedeckt. Unsere Familie hatte dreimal Glück. Wir lagen genau in der Mitte von drei Bombeneinschlägen. Der Soldat, der „Deckung“ rief und unsere Mutter retteten uns das Leben. Er aber lief in den Tod. In vielen Nächten träumte ich von diesem Tag. An diesem Tag sind einige Bürger des Sternviertels durch den Bombenangriff getötet worden. Etliche Häuser wurden zerstört.
Einige Jahre später fuhr ich mit meinem Fahrrad in den Stadtforst. Hier sah ich an der Stelle, wo wir 1945 gelegen haben, Waldarbeiter. Ich sprach sie an und sie zeigten mir Bäume, die voller Bombensplitter waren. Die Bäume mussten wegen Baumbruchs gefällt werden. Anhand der Ringe konnte man das Jahr 1945 ablesen. So manches Sägeblatt mussten die Waldarbeiter beim Sägen wechseln. Die Bombensplitter hätten uns damals auch treffen können.
Kurz vor Kriegsende war ich auf dem Bahnhof. Am Gleis 1 lief der Personenzug ein. Der Zug kam aus Richtung Hamburg und wurde von Tieffliegern auf der Fahrt angegriffen. Die Leute vom Roten Kreuz holten Tote und Verletzte aus dem Zug. Am Ende des Zuges befand sich ein Wagen mit einer Vierlingsflak. Bei einem Luftkampf sahen wir Kinder, wie ein Flugzeug in der Luft angeschossen wurde. Das Flugzeug strauchelte und stürzte ab. Wir sahen, wie etwas aus dem Flugzeug fiel. Es war der Pilot, der mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug sprang. Wir beobachteten dieses vom Sternplatz aus.
In der Nähe des Stadtguts an der Waldstraße bei Opa Kruses Garten hing der englische Soldat mit seinem Fallschirm im Baum. Wir Kinder vom Stern waren die ersten, die mit dem Soldaten Kontakt aufnehmen wollten, doch keiner von uns konnte Englisch. Die Uelzener Feuerwehr kam und befreite den Soldaten. Ein Bürger aus der Linsingenstraße wollte den Soldaten am liebsten noch höher hängen. Wir Kinder jedenfalls freuten uns, dass der Soldat gesund runter gekommen war.
Am 17. April war unsere Stadt noch nicht eingenommen. Wir suchten Schutz in unserem Luftschutzkeller. Tag und Nacht hörten wir die Artilleriegeschosse. Wir hatten Angst und trauten uns nicht nach draußen.
August Lindemann, der bei uns mit im Haus wohnte, kam in den Keller gelaufen und rief:,,Unser Kirchturm brennt!“ Wir verließen den Keller. Viele Bürger standen schon in der Sternstraße und sahen zu, wie der Kirchturm brannte und die Spitze des Turms brennend zur Seite fiel. Unsere Mutter weinte.
Einige Bürger des Sternviertels wollten die weiße Fahne aus dem Fenster hängen. Ein Bürger aus der Linsingenstraße verhinderte das. Er lief von Haus zu Haus und drohte, wer sich ergibt und die weiße Fahne raushängt, den würde er vor’s Kriegsgericht bringen. Einige Tage später eroberten die Alliierten Truppen das Sternviertel. Für uns Sterner (Kinder des Sternviertels) war der Krieg vorbei, als der erste Panzer der Amerikaner vor Friedrich Liekers Laden, aus der Medingstraße kommend, hielt. Ein freundlicher schwarzer Soldat saß auf dem Panzer. Er beschenkte uns mit Schokolade und fragte nach Eiern.
Unsere Wohnung Sternplatz 1 mussten wir beim Einrücken der Engländer und Amerikaner vorübergehend verlassen. Die Besatzungstruppen besetzten unsere Wohnung. Wir bekamen in der Sternstraße bei Bübchen Ziesenitz ein Zimmer zugewiesen. Aber unsere Wohnung konnten wir zeitweise betreten. Hier lernte unsere Familie Schorse, einen Engländer, kennen. Nach einigen Tagen wurde die Einheit nach Melzingen ins Lager verlegt. Wir konnten wieder in unsere Wohnungzurück. Schorse, der Engländer, brachte seine schmutzige Wäsche aus Melzingen zum Waschen und Bügeln zu uns. Als Dank brachte er immer für uns Kinder etwas mit. Weihnachten 1945 wurden wir von Schorse zur Weihnachtsfeier seiner Truppe im Melzinger Lager eingeladen. Für mich war es die schönste Weihnacht nach dem Krieg. Ein riesiger geschmückter Tannenbaum mit echten Kerzen zierte den Raum. Auf den gedeckten Tischen gab es Kakao, Kekse, Kuchen, Bonbons und für die Erwachsenen echten Bohnenkaffee.
Wir gingen öfter zum Bahnhof, wenn wir Hunger hatten. Die Soldaten warfen aus den Fenstern der Züge ihre Verpflegung. Weißbrot mit Butter und Käse mochte ich gerne. Es waren viele Kinder, nicht nur Sterner, beim Einlaufen der Besatzungszüge am Bahnsteig.
Unser Vater hatte Verwandte in Amerika, von denen bekamen wir öfter ein CARE-Paket. Die Freude war immer groß. Es waren Sachen drin, die man bei uns nach dem verlorenen Krieg nicht bekam. Einige Sachen tauschten wir auf dem Schwarzen Markt um. Für Pall Mall Zigaretten und Bohnenkaffee bekam man alles. Für ein Paar Strümpfe undzwei Packungen Zigaretten durfte ich Kaninchen bei Dicky in der Ziegelhofstraße halten. Unser Hauswirt gestattete keine Kleintierhaltung auf dem Grundstück. Ob ich die Kaninchen je gegessen habe, weiß ich nicht mehr.
Wir bekamen in der Schule die Schulspeise Kartoffelsuppe, Milchreis und Haferflockensuppe. Sie wurden in Kannen vom Roten Kreuz geliefert. Wir Kinder hatten ein Kochgeschirr und aßen in der Schule. Blieb etwas Essen über, nahmen wir die Reste mit nach Hause für die Familie.
Der Stadtwald war voller Wehrmachtssachen nach dem verlorenen Krieg. Autos, leere Benzinkanister, Feldspaten, Leuchtspurmunition und Pistolen fanden wir auf dem Weg zum Rehteich. Aus den Leuchtspurpatronen holten wir das Schwarzpulver heraus und steckten es an. Uns war nicht bewusst, was hätte passieren können. Mit gefundenen Feldspaten schaufelten wir uns eine unterirdische Höhle und bedeckten diese mit Hölzern und Buschwerk. Wir fühlten uns unentdeckt am Rehteichweg und verbrachten hier schöne Stunden. Nach einigen Tagen lauerte uns der Förster auf und wir mussten die Höhle wieder zuschaufeln.
Drei Fragen und ihre Antworten
Die Fragen ergänzen die persönlichen Berichte und sind einige Zeit nach der Gesprächsrunde gestellt worden.
Spüren Sie das Erlebte noch heute in bestimmten Situationen und wie gehen Sie damit um?
Auf jeden Fall, z. B. abends, wenn ich schlafen gehe, höre und sehe ich manchmal noch die Bombeneinschläge. Mein Vater war im Krieg in Frankreich und als er zurückkam, trennten sich meine Eltern. Ich hatte eine harte, aber trotzdem schöne Kindheit.
Ist das Thema ,Krieg“ in der Nachkriegszeit in Ihrer Familie thematisiert worden – und wie haben Sie Ihren Kindern und Enkelkindern Ihre Erlebnisse vermittelt?
Meine Kinder und Enkelkinder hatten kein Interesse daran, wir redeten nicht darüber.
Würden sie sich als Angehöriger einer traumatisierten Generation bezeichnen?
Auf jeden Fall.
Hintergründe zu dieser Idee (Drei Fragen und ihre Antworten) finden Sie hier.
1 Die Flak: Kurzwort für „Flugabwehrkanone“ (Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl., Mannheim 1988, Band 7, S. 355)
2 CARE-Pakete sind Nahrungsmittelpakete, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Rahmen von amerikanischen Hilfsprogrammen nach Europa geschickt wurden. (Wikipedia, Stichwort: CARE-Paket, entnommen am 17.10.2016)
Titelbild aus Hoffmann, Horst: Archivbilder aus Uelzen, S. 112